Ungeschminkter Tourismus: Auf Slum-Tour in Indien

Indien
09.11.2017

Von: Daniel Nutz
Immer mehr Touristen zieht es in Gegenden abseits herausgeputzter Touristenattraktionen – dorthin, wo das wahre Leben ist. Slum-Führungen bieten diese Möglichkeit. Eine Slum-Tour im größten Slum Mumbais zwang uns, einige Vorurteile über Bord zu werfen.
Mit mehr als einer Million Einwohner ist Dharavi der größte Slum Indiens. Mit Anbietern wie Reality Tours können Touristen ins Leben des Slums eintauchen.
Mit mehr als einer Million Einwohner ist Dharavi der größte Slum Indiens. Mit Anbietern wie Reality Tours können Touristen ins Leben des Slums eintauchen.
Sehr viele in der Metropole Mumbai erhältliche Kleidungsstücke werden im Slum von Dharavi produziert.
Recycling von Plastik ist eine Hauptgeschäftsquelle in Dharavi

Bitte nicht fotografieren und den bettelnden Kindern nichts geben“, sagt unser Tourguide, bevor er mit uns in eine unbekannte Welt eintaucht. Wir stehen am Eingang zu Dharavi, dem größten Slum von Indiens Metropole Mumbai. Beinahe an jeder zweiten Ecke tritt ein anderer Geruch in unsere Nase. Es riecht herrlich nach Essen, dann übel nach Abfällen und manchmal betäubend nach den ungefilterten Abgasen, die aus den Fabrikschornsteinen kommen.

Wir steigen eine klapprige Eisenleiter hinauf und blicken über den riesigen Slum: Er ist so groß wie 500 Fußballfelder und erstreckt sich entlang von sechs Bahnstationen. Mehr als eine Million Menschen leben hier. Auf den Flachdächern liegen haufenweise leere Plastikbehälter. Aus kleinen Fabriken steigt Rauch auf. Dharavi ist kein schöner Ort, er ist überfüllt und schmutzig und zählt vielleicht gerade deshalb zu den intensivsten und aufregendsten Orten Indiens. So interessant, dass wir ihn über eine Touristentour erkunden.

Darf man das? 

Unsere achtköpfige Gruppe ist bei weitem nicht die einzige, die den Slum besichtigt. Als wir weitergehen, kreuzt eine andere Führung unsere Route. Ein paar Amerikaner bewegen ihre von Fastfood geformten Hinterteile vor uns die steile Treppe hinab. In uns kommt das erste Mal die Frage auf: Ist das, was wir hier machen, moralisch vertretbar? Darf man einen Slum, einen vermeintlichen Ort der Armut, als touristische Attraktion inszenieren?

Millionen Touristen kommen jährlich nach Mumbai. Reiseführer empfehlen neben der Besichtigung des Gateway of India und des Taj Mahal Palace mittlerweile auch Slum-Touren durch Dharavi. Viele Tourismusbüros in Mumbai haben entsprechende Führungen – zu Fuß oder mit dem Auto – in ihr Programm aufgenommen. Einige Betreiber wie „Reality Tours“ oder „Be The Local“ haben sich als Platzhirsche einen Namen gemacht. Daneben gibt es auch zahlreiche private Guides, die Touristen auf eigene Faust durch Dharavi führen.

Globales Phänomen

Sogenannter Slum-Tourismus ist ein weltweites Phänomen. Begonnen hat es um die Jahrtausendwende in den Favelas in Brasilien und den Ghettos von Soweto in Südafrika. Man kam auf die Idee, Stadtbesuchern nicht nur die touristischen Hotspots, sondern auch die weniger repräsentativen Gegenden zu zeigen. Mit der Zeit wurde die Nachfrage nach Slum-Touren immer größer und das Angebot kommerzieller und professioneller.

Das Phänomen Elendstourismus hat aber genau genommen eine noch längere Geschichte. Erstmals wurden diese Touren im viktorianischen Zeitalter in Europa angeboten, wie Julia Burgold, Humangeographin an der Universität Potsdam, erklärt. Soziale Vereine oder auch die Kirche führten wohlhabende Menschen durch die Armutsviertel: „Man wollte eine Art Exkursion machen.“ Dieses „Slumming“ hatte aber Burgold zufolge nicht wie heute einen touristischen Hintergrund, sondern ist aus einer sozialen Bewegung heraus entstanden: „Es ging darum, Leute aus der Oberschicht auf Probleme aufmerksam zu machen und sie so auch zum Spenden anzuregen.“

Vor fast 100 Jahren gab es dann den Trend des sogenannten Ethnic Slummings in den USA. Man führte weiße Bürger durch von Schwarzen bewohnte Ghettos. Die Weißen interessierten sich für die schwarze Kultur und ließen sich auch in die Jazzclubs der Roaring Twenties entführen. „Dabei vermischten sich helfende und voyeuristische Motive”, so Burgold. Derzeit gibt es in westlichen Ländern einige Touren, die Einblicke in die Obdachlosigkeit ermöglichen, indem sie Besucher in soziale Einrichtungen führen. In Wien bietet beispielsweise die Organisation Shades Tours seit rund eineinhalb Jahren eine solche Tour an (die ÖGZ berichtete). 

10.000 Unternehmen

Zurück nach Mumbai. Bevor wir Dharavi betraten, hatten wir vage Vorstellungen davon, wie es in einem Slum zugeht. Wir erwarteten Armut, noch bitterer als im Rest der 18-Millionen-Metropole Mumbai. Je weiter wir in Dharavi eintauchen, desto mehr wird unser vorgefasstes Bild zurechtgerückt. Über enge, mit Menschen gefüllte Gassen passieren wir Gemüsestände und Handyshops und kommen an vielen kleinen Unternehmen vorbei: das ökonomische Herz des Slums. Arbeiter beladen LKWs. Ein Mann, der einige Barren Aluminium geschultert hat, geht an uns vorbei (siehe Bild). 
Rund 10.000 kleine Firmen, erzählt uns unser Guide, gibt es in Dharavi. Darunter: Handwerksbetriebe wie beispielsweise Gerbereien, Schneidereien und Töpfereien. Beinahe 90 Prozent der Unternehmen machen ihr Geschäft mit Recycling. Sie schmelzen Plastik oder Metalle und bereiten sie zur Wiederverwertung auf. Die Arbeitsbedingungen sind hart. Die toxischen Dämpfe, die diese Prozeduren mit sich bringen, wirken teilweise so stark, dass sie bei uns zu Kopfschmerzen führen. Wie kann man hier nur arbeiten? „Unsere Körper haben sich an das Gift gewöhnt“, versucht unser Guide zu beschwichtigen. Ungefähr 250 Rupien (3,3 Euro!) verdient ein Arbeiter hier am Tag. Das ist mehr als in vielen anderen Jobs in Indien. Zuwanderer aus den ländlichen Regionen wollen mit einem Job in Dharavi die Basis für ein vernünftiges Leben legen. Es ist ihre große Chance, in Mumbai Fuß zu fassen. Wer hier gut bezahlt arbeitet, braucht gute Beziehungen. Ein Ort der Armut, wie wir ursprünglich dachten, ist dieser Slum nicht.

Bewohner sehen’s positiv

Während der Tour wird uns klar, dass uns die Bewohner hier nicht als Störfaktoren sehen. Viele von ihnen finden es sogar gut, dass Touristen Dharavi besuchen, sagt Nieck Slikker. Der Niederländer erforschte vor knapp drei Jahren für seine Uni-Abschlussarbeit die Einstellung der Einwohner von Dharavi zum Slum-Tourismus und führte mit rund 70 von ihnen ausführliche Interviews. Das Ergebnis: Der Großteil steht den Slum-Touren positiv gegenüber. 

Ist Slum-Tourismus also eine gute Sache? Julia Burgold kam in einer Untersuchung in Dharavi zum Schluss, dass sich das Image des Slums bei den Touristen nach einem Besuch zum Positiven ändert. In ihrer Wahrnehmung verdrängt die Geschäftigkeit des Ortes den Eindruck von Armut und Elend. Eine Erfahrung, die auch wir machten. Fakt ist, dass die Touren die Wertschöpfung in den Slums steigern. Allerdings sei sowohl in Dharavi als auch in den meisten anderen Slums weltweit nur schwer nachvollziehbar, wer letztlich wirklich etwas vom Geld der Touristen abbekommt.
Wir absolvieren unsere Dharavi-Tour bei Reality Tours & Travel. Dieser Anbieter ist im Vergleich zu den meisten anderen besonders transparent. Die Organisation bietet neben Slum-Tours auch Fahrrad-, Streetfood- oder Nachttouren durch Mumbai und andere indische Städte an. 80 Prozent des Gewinns nach Steuern fließen direkt an die Schwesterorganisation-NGO Reality Gives. Und diese wiederum finanziert gemeinnützige Projekte für die Slumbewohner wie etwa Weiterbildung, Sportkurse und die Förderung von Volksschulen. 

Soziale Projekte 

Auch unsere Tour bietet einen Einblick in diese Entwicklungsarbeit vor Ort. Wir passieren nicht nur Schulen und Sportplätze, die teilweise von Rea-lity Gives gefördert werden. In einer Art Klassenraum treffen wir auf eine Gruppe junger Inderinnen und Inder, die gerade dem Englisch-Unterricht folgen. Sie sind Teilnehmer des von der NGO finanzierten Youth Empower-
ment Programs. Menschen im Alter zwischen 18 und 35 Jahren werden hier dreieinhalb Monate lang für den Arbeitsmarkt fit gemacht. Sie bekommen, ohne dafür bezahlen zu müssen, Englisch-, Computer- und Soft-Skills-Unterricht. „Wir glauben, dass Tourismus eine Kraft für lokale Entwicklung sein kann und soll“, ist auf der Website von Reality Tours zu lesen. Und tatsächlich profitieren zumindest einige der Slum-Bewohner von den Eintrittsgeldern der Touristen. 

Reality Tours sind mit einen Ticketpreis von zwölf Euro pro Person im Vergleich zu anderen Anbietern relativ teuer. Aber das stört die meisten Touristen, die ja die Hauptkunden sind, nicht. Schließlich kaufen sie sich mit ihrem Eintrittsgeld auch das gute Gefühl, den Menschen zu helfen. Und auch das schlechte Gewissen, als Tourismusattraktion die Armen zu begaffen, lässt sich mit diesem finanziellen Beitrag ein wenig dämpfen. Das Gefühl, etwas Unmoralisches zu tun, nimmt ein wenig ab. Wie groß aber letztlich der positive Effekt der sozialen Initiativen im Slum ist, lässt sich schwer einschätzen. Schließlich können nur sehr wenige der mehr als einer Million Slumbewohner an den Programmen der NGO teilnehmen.

Nach rund zwei Stunden endet unser Rundgang. Wir landen in der Zen-trale von Reality Tours. Wir hatten aus Unwissenheit gespeiste Vorstellungen vom Leben in einem Slum. Auch wenn die Menschen hier mit Müll anstatt mit Gold Geschäfte machen: Die Tour hat unsere Vorurteile großteils über den Haufen geworfen. Dharavi ist kein extremer Armutsort, sondern vor allem ein geschäftiger Platz mitten in Mumbai. Slum-Tourismus hilft einerseits, falsche Vorstellungen von Menschen aus dem reichen globalen Westen zu korrigieren und spült andererseits einige Devisen an.
Hier liegt natürlich der Knackpunkt: Wie kann man sicherstellen, dass die Bewohner tatsächlich finanziell etwas abbekommen von den tausenden Touristen, die sich jährlich den größten Slum Indiens ansehen? Reality Tours bietet mit seinen Sozialprogrammen hier jedenfalls einen Weg an, der positive Impulse setzt. Allerdings kann man in Anbetracht der mehr als einer Million Einwohner auch nur von einem Tropfen auf den heißen Stein sprechen.

Reportage aus Mumbai von Daniel Nutz und Alexandra Rotter

Reality Tours

Reality Tours & Travel und die NGO Reality Gives starteten 2006 ihre Aktivitäten und bieten seither Slum-Touren und viele andere Führungen wie zum Beispiel Streetfood- oder Fahrradtouren an. Die beiden Organisationen beschäftigen mehr als 50 Mitarbeiter. 80 Prozent des Gewinnes gehen in soziale Programme wie das „Youth Empowerment Program“ (Sportangebote für Kinder und mehr). Mehr als 6.000 Junge haben davon bereits profitiert.

Seit 2014 bietet die Organisation auch in der indischen Hauptstadt Delhi Touren durch den Slum Sanjay Colony sowie zahlreiche andere Stadtführungen an. Rund 15.000 Besucher machen mittlerweile jährlich bei einer der angebotenen Führungen und Reisen mit. 2012 wurde Reality Tours mit dem Responsible Tourism Award ausgezeichnet. 

realitytoursandtravel.com