Die alpine Küche kann sehr fein sein
Während sich die Köche, Journalisten und Gourmetexperten gut ausgerüstet mit Wanderschuhen das Windachtal bis zur Siegerlandhütte auf 2710 Meter hinaufwandern, manche hinaufquälen, reichen Viehzüchter Michael Wilhelm Schlapfen – ich glaube man nennt sie crocs – und er findet auch noch Zeit am Wegesrand Kräuter und Ampfer zu pflücken. Wegen ihm sind wir hauptsächlich hier. Wir marschieren praktisch durch sein Arbeitszimmer.
Michi, wie ihn alle nennen, züchtet im Windachtal, auf der stillen Seite des Ötztals, Tuxer Rinder, Wagyu, Yaks und Zackelschafe für anspruchsvolle Gourmets und Spitzenköche. „Herkömmliche Bergschafe“, erzählt er, „sind so hochgezüchtet, dass sie am Berg eigentlich nicht mehr leben können, weil sie mehr Futter benötigen, als sie auf einer Alm finden können.“ Seine Zackelschafe sind eine uralte, kleinwüchsige Rasse und noch bestens an die alpinen Bedingungen hier oben angepasst. Ihr Fleisch schmeckt wie Jungziege, Lamm und ein bisschen wie Reh und ist bei Spitzenköchen wie Andreas Döllerer oder James Baron sehr beliebt. Auch das Fleisch vom Tuxer Rind und sogar vom Yak, einer urwüchsigen Rinderrasse aus dem Himalaya, die hier oben auf über 2000 Metern optimale Lebensbedingungen findet, hat eine ganz besondere Textur und Aroma. Das liegt auch daran, dass sie bei Michi doppelt so alt wie sonst in der Tierzucht üblich werden dürfen, bevor sie geschlachtet werden. Dazu treibt er sie im Herbst ins Ötztal hinunter, füttert sie noch einige Wochen im Stall, bis er sie wenige hundert Meter von seinem Hof entfernt schlachten lässt: stressfrei. Das langsamere, längere Aufwachsen macht ihr Fleisch zur optimal fettmarmorierten Delikatesse.
Weniger Leistung, längeres Leben
Gemeinsam mit seinen hochkarätigen Kunden experimentiert Michi auch mit Kreuzungen, zum Beispiel aus dem Wagyu-Rind und dem Tuxer. Seit zwanzig Jahren vermarktet der 39-Jährige Söldener sein Premium-Fleisch aus Tirol und beliefert damit nationale und internationale Spitzenköche. Wir werden später auf der Siegerlandhütte ein köstliches Tatar aus Tux-Wagyu-Fleisch essen und ein Gulasch aus dem Fleisch einer 17-jährigen ehemaligen Tuxer Milchkuh. Vielleicht lag es an der Würzung von Hansjörg Ladurner: Der Eintopf schmeckte schon sehr anders, ein wenig streng für Ungeübte.
„Streng“, zumindest ungewohnt schmeckte auch die Rohmilchbutter, die wir am Abend zuvor auf der Gampe Thaya verkosten durften. Hier, auf der „lauten“ Seite des Ötztals, wird mitten im Söldener Skigebiet im Sommer noch eine Alm bewirtschaftet. Draußen laufen 14 Tiroler Grauviecher herum. Von denen stammt die Milch, der Käse und das Rindfleisch, das man hier essen kann. Ein Kaiserschmarrn aus Rohmilch? Köstlich! Ein Carpacchio vom Grauvieh? Sensationell! Sogar die Hauswurst (80% Grauvieh, 20% Schwein) auf „Eingezetteltem Kraut“ (selbstgemachtes Sauerkraut) ist eine durchaus preisgünstige Delikatesse. Die Wirtsleute Prantl betreiben die Alm seit 2000, Wirt und Bauer Jakob Prantl hält nichts von Bio, Tradition ist ihm wichtiger, sein Motto: „Konventionell mit Vernunft“. Sein Grauvieh produziert im Sommer 20.000 Liter Milch, er könnte das Doppelte verkaufen. Aber auch er sagt wie Michi Wilhelm: „Weniger Leistung, längeres Leben, bessere Qualität.“
Molke absennen
Aus Vorarlberg ist zum Koch.Campus Haubenkoch und Kräuterspezialist Thorsten Probost (Burgvitalresort, Lech am Arlberg) angereist. Er verwendet 35 verschiedene Wildkräuter in seiner Küche, auch für Tees. „Küchenfähig“ seien davon 22. Auf der Gampe Thaya nimmt er uns mit in die Vorarlberger Resteverwertung von Molke. Durch „Absennen“ macht man aus ihr den Zirger, einen krümeligen, mit Kräutern gewürzten, deftigen Käse. Nur noch sieben Vorarlberger Bauern wissen, wie man Zirger macht. Den anderen fehlen auch die traditionellen Geräte zur Zirger-Erzeugung. Probost hat auch eine Innovation dabei: einen selbstgemachten Molkeessig. Davon ist Daniel Flammer restlos begeistert. Der Schweizer Buchautor beschäftigt sich mit der Geschichte der Ernährung und des Kochens im alpinen Raum. Auch wenn es bei dieser Veranstaltung vor allem darum gehe, alte kulinarische Traditionen des alpinen Raums wiederzuentdecken und zu beleben: Der Molkeessig sei noch besser. „Das hat es früher gar nicht gegeben“, ruft er. „Das ist ein Superbeispiel dafür, wie innovativ alpine Küche sein kann!“
Innovative alpine Küche
Innovativ sind Michael Wilhelms Züchtungen mit Yaks und Tuxer Rindern auch. Andreas Döllerer hat nach eigener Auskunft zwanzig Versuche gebraucht, bis er für seine gefüllten Sauerampferblätter, die er uns als ersten Gang auf der Siegerlandhütte kredenzt, die richtige Mischung fand. Er kocht seit sieben Jahren „alpine Cuisine“, bei der er nur Produkte aus dem Alpenraum verwendet, darunter auch viele Wildpflanzen wie Lindentriebe, Enzian, Ampfer oder Pilze. „Es gibt oft keine Erfahrungswerte, wir fangen bei Null an“, sagt der Spitzenkoch aus dem Salzburger Land. Er lässt sich von 54 regionalen Produzenten beliefern. „Es wäre einfacher den Großhändler anzurufen – aber am Teller lohnt sich der Mehraufwand.“ Den Großhändler braucht er trotzdem. Denn im Salzburger Raum gibt es keine Gemüsebauern. Deshalb stammt sein Gemüse aus Oberitalien oder Ostösterreich.
Tradition neben Innovation
Natürlich ist das große Vorbild für alle Verfechter der alpinen Regionalküche Skandinavien. Aber die Dänen und Schweden hatten einen großen Vorteil: „Sie konnten neu anfangen ohne große Tradition“, sagt Döllerer. „Wir müssen unseren Gästen die Nockerln und Schnitzel erst ausreden.“ Aber die serviert er ihnen natürlich trotzdem, wie viele anderen der anwesenden Spitzenköche der regionalen (Natur-)Küche.
High-End-Regionalküche und bodenständige Wirtshausküche gibt es in Döllerers Genusswelt und auch beim Gastkoch aus Bayern parallel, oft auch am gleichen Tisch: Alexander Huber aus Pleiskirchen führt ein 400 Jahre altes Gasthaus in 11. Generation, den Huberwirt, und hat daraus ein hochdekoriertes Sternelokal gemacht. Er gilt als einer der Vorreiter des Casual Dinings in Deutschland. Man kann bei ihm auch einen ganz normalen Schweinsbraten bekommen.
Döllerer füllt seine Sauerampferblätter, die Michi Wilhelm am Wegesrand gepflückt hat, mit Käsebruch, Pulled Pork vom Spanferkel und einem Sirup aus Bergampfer, Apfel und Fichtenwipfel. „Der Ampfer gibt dem Gericht den nötigen Biss, nicht das Fleisch“, erklärt Döllerer. „Man muss die alpine Küche nicht dekonstruieren, wir brauchen das Schnitzel nicht neu erfinden, das kann man gar nicht besser machen. Wir versuchen Dinge einfacher und klarer zu machen. 25 Aromen am Teller versteht niemand.“ Und dafür sieht Döllerer bei der nachwachsenden Generation der Köche viel Potenzial und einen ausgeprägten „Esprit für Eigenständigkeit“.
Der Bayer Alexander Huber hat eine Lammleber mitgebracht, die er auf einem erhitzten Stein (den seine Kollegen im Umfeld der Siegerlandhütte gefunden hatten und in die Küche schleppten) langsam garen lässt. Dazu gibt‘s eine Buttermilchsauce mit Kräutern aus dem eigenen Garten und ein Biertreberbrot.
Innereien serviert auch Armin Leitgeb aus Schönberg im Stubaital, der nach langen Jahren im Ausland wieder in die Heimat zurückgekehrt ist und als Consultant für die Spitzenküche arbeitet. Von ihm gibt es eingebrenntes Beuschel vom Kalb und vom Yak, dazu Kartoffelschaum, Schildampfer und „hundsgewöhnliche Backerbsen, die sind so abgewrackt, dass sie schon wieder lässig sind“. Das Beuschel vom Yak hat eine feine Wildnote. Jeremias Riezler von der Walserstuba im Kleinwalsertal verarbeitet Yak-Blut zu Pfannkuchen und zeigt uns, was man aus Wacholderzweigen und -beeren alles machen kann. Er bezeichnet sich selbst als „radikal regional“, bei ihm kommen auf den Nachtischwagen im Restaurant nur Früchte aus dem Garten der Mutter.
Schwammige Regionalität
Eher weniger vom „schwammigen Begriff Regionalität“ hält der Südtiroler Hansjörg Ladurner. Er verfolgt stattdessen eine „Terroir-Küche“ und verwendet, „was uns der Boden gibt“. Und danach soll es auch schmecken. Ihm ist am wichtigsten, dass er seine Produzenten persönlich kennt und dafür nimmt er dann auch ein paar Kilometer mehr Anfahrtsweg in Kauf. Von ihm stammt der etwas streng schmeckende Eintopf vom Tuxer Rind. Sein selbstgebackenes Roggen-Fladenbrot bäkt er ebenfalls auf vorgefundenen erhitzten Felsbrocken auf der Hütte.
James Baron, der britische „Gentlemankoch“ aus dem Tannenhof in St. Anton am Arlberg, präsentiert grillierte Zackelschafherzen in einem Wrap aus Einkornmehl. Die Herzen hat er vier Tage in Cornellkirschensaft eingelegt und dann gegrillt. In seinem Wrap befindet sich auch Ziegenfrischkäse aus Sölden und Dirndeln. Bei jedem Biss explodierte ein anderes Aroma im Mund. Gesäuert wird nicht mit Zitrone, sondern mit Sauerampfer. Bei ihm im Tannenhof kommen Zackelschafe regelmäßig ins Menü. „Man schmeckt die Leidenschaft und wie der Michi seine Tiere behandelt, das ist für uns sehr wichtig!“, sagt er. Und das interessiere auch englische Touristen im Tannenhof, die hätten ein großes Interesse an alpiner Küche, obwohl man den Begriff in Großbritannien und Frankreich noch erklären müsse.
Kokelnde Fichtenzapfen
Nicht, dass die bisher beschriebenen Gerichte nicht etwas wirklich Besonderes dargestellt hätten: Am ausgefallensten, soll man sagen exotischsten, aber auch am konsequentesten wirkt das Gericht „Die Fichte“ der Bündnerin Rebecca Clopath, die ehemalige Sous-Chefin von „Hexer“ Stefan Wieser im Rössli im schweizerischen Escholzmatt, die zu Hause auf einem Bauernhof auf über 1500 Metern „Naturküche“ zelebriert. „Die Fichte“ besteht aus einem gegarten Halsstück vom Yak, parfümiert mit Fichtenholz, dazu ein Pesto aus Zapfensamen, getrocknete Preiselbeeren, selbst gemachtes Mascarpone von zu Hause („von der Kuh Nuella“), etwas gebratener Baumbart und als ölfaktorisches Highlight für den vierten Sinn, das auch auf der luftigen Terrasse der Siegerlandhütte funktioniert: kokelnde Fichtenzapfen.
Improvisierte Spitzenküche
Schade, dass es diese Zusammenstellung eines alpinen Menüs auf fast 3000 Metern Höhe so nie mehr geben wird. Unglaublich, welche Mühe sich Veranstalter und Köche aufgeladen haben: Die Kochutensilien und Zutaten wurden teilweise mit Lasttieren vom Bundesheer auf die Hütte gebracht, den Autos kommen nicht mal in die Nähe. Verschiedenes wurde am Wegesrand gesammelt und damit improvisiert. Thorsten Probost fand noch Zeit uns diverse Bergkräuter und ihre Anwendung in Küche und Heilkunde zu erklären. Mixologe Reinhard Pohorec war extra aus Wien angereist, um uns auf der Gampe Thaya einen Drink auf Milchbasis zu kredenzen, der alles andere als nach Milch schmeckte und auch nicht so aussah. Die Jungköche Pascal und Silvio kamen aus dem benachbarten Obergurgl und servierten uns als Amuse Guelle eine Rinderkopfsülze vom Braunrind mit Brunnenkresse, die sie ebenfalls am Wegesrand gesammelt hatten. Und der Ernährungshistoriker Daniel Flammer berichtete von den Transhumans, den Nomaden der Alpen, die einst die Käsekultur in die Schweiz gebracht hatten, und davon, dass der alpine Raum das genetische Lager für die meisten Ziegenrassen weltweit darstellt.
Voneinander lernen
Und alles nur, um voneinander zu lernen. „Der Koch.Campus ist ein regelmäßiges Köchetreffen zu bestimmten Themen“, erklärt Organisator Klaus Buttenhauser. „Es geht um den Gedankenaustausch ohne irgendwelche kommerziellen Interessen.“ Auch deshalb werden diese Treffen nie zu einer wiederkehrenden Veranstaltung werden. Gefördert werden sie vom Lebensministerium, den Bundesländern und der Europäischen Union. „Wir wollen die österreichische Küche als herausragende Kulturleistung positionieren“, sagt Buttenhauser. „Diese Anstrengungen sollen sich bewusst nicht nur auf das Segment der Spitzengastronomie beschränken. Wenngleich ihre Vertreter die Vordenker sein mögen, so sollen sich die im Koch.Campus entwickelten Qualitätsparameter in der gesamten Gastronomie verankern."
Andreas Döllerer, Mitgründer des Koch.Campus, ergänzt: „Wir sind kein abgeschotteter Kreis, es kommen immer wieder neue Köche dazu.“ Und ein Anliegen sei auch zu zeigen, dass die alpine Küche zu unrecht als grob, deftig und einfach gilt. „Alpine Küche kann sehr fein und raffiniert sein.“ Quod erat demonstrandum. Bis zum nächsten Mal im Koch.Campus! Es muss ja nicht immer nach dreieinhalb Stunden Fußmarsch am Ende eines abgelegenen Gebirgstals sein.