Rettet das Wirtshaus!

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15.02.2024

Von: Roland Graf
Energiepreise, Inflation und kein Personal: Während vielerorts Wirte aufgeben, investieren gerade Spitzenköche ins gute, alte Dorfwirtshaus. Wer hat nun recht?
Rettet das Wirtshaus-Story

Das neue Jahr begann im niederösterreichischen Katzelsdorf mit einer schlechten Nachricht: „Aufgrund Personalmangels müssen wir unser Gasthaus nach 36 Jahren schließen“, hieß es seitens Eva und Richard Tikowsky.

Das „Gasthaus zur Schmiede“ ist kein Einzelfall, vor allem aber befindet es sich in einer der reichsten Gemeinden im dichtest besiedelten Bezirk des Bundeslandes. Auch dort ist das Wirtshaussterben also angekommen. Ein paar Ortschaften weiter in Wiener Neustadt-Land kommentiert ein langjähriger Gastwirt diese unerfreuliche Entwicklung traurig, aber differenziert: „Diejenigen Gasthäuser, die in fünf Jahren übrig sind, werden fast Monopolisten sein“. Johann Puchegger hat seinen Betrieb in Winzendorf vor wenigen Jahren an Sohn Christoph übergeben. Ohne Reservierung geht beim „Puchegger-Wirt“ selbst an Wochentagen kaum etwas; Manager nehmen 30 Minuten Anfahrt für ein Geschäftsessen mit Stil gern in Kauf.

Der klassische Dorfwirt, Anno 1896 bewusst gegenüber der Schneebergbahn-Haltstelle errichtet, bietet schließlich nicht nur Schnitzel und Rahmherz an, sondern auch Confierten Wels oder Geschmorte Ofenzwiebel. Gourmets aus Wien fachsimpeln mit Chef Christoph Puchegger, während nebenan Opa 80er gefeiert wird. Diese neue Offenheit des oft als Hort des Chauvinismus, als Sitz der sprichwörtlichen Stammtisch-Mentalität, gescholtenen Dorfwirtshauses, ist neu. Oder besser gesagt: Sie lässt sich als Hebel für Neues nutzen. Davon ist zumindest Mike Nährer überzeugt: „Das Wirtshaus ist ein wichtiger Multiplikator im Ort, auch für Genussprodukte, die noch nicht so bekannt sind“. Der 42-Jährige philosophiert aber nicht nur von der Zukunft des Dorfgasthauses, er hat auch gehandelt.

Mike Nährer
„Je spezialisierter Du bist, desto schneller bist Du auch wieder weg“: Die breiten Vorlieben des heutigen Publikums zu treffen, sei der Schlüssel, sagt Mike Nährer. 

2,2 Mio. Euro für „Dorfwirt neu“

Im 140 Seelen-Ort Rassing bei Herzogenburg stehen die beiden Welten noch dazu direkt gegenüber. Hier das elterliche Gasthaus Nährer, holzvertäfelt und mit Mehrzweckzahl, in dem getanzt wurde, geheiratet und auch die lokalen Totenmahle stattfanden. Ein klassischer Mittelpunkt des Ortslebens eben. „Du lebst ja mit Deinen Gästen mit, siehst wie sie die erste Freundin mitbringen und dann Taufe feiern“. Und doch investierte Nährer 2,2 Mio. in einen radikalen Neubau, da seine Idee eines zeitgemäßen Wirtshauses inkl. funktionaler Küche „in den alten Räumlichkeiten nicht umsetzbar waren“.

Der Name des im Februar 2024 eröffneten „Gasthaus Nährer“ blieb, doch nunmehr gibt es als 9,5 Meter hoher, verglaster „Stadl“ den Blick auf die Traisentaler Natur frei. Zu der gehören auch die Gemüsefelder des Spitzenkochs, der u. a. bei den Gourmet-Legenden Marc Veyrat und Ferran Adrià am Herd stand. „Wenn Du die Augen zumachst beim Essen, sollst Du schmecken, in welcher Region Du bist“, ist das Credo des neuen Dorfmittelpunkts samt integrierter Greisslerei mit lokalen Gourmandisen.

Gebackene Mäuse
„Wenn Du die Augen zumachst beim Essen, sollst Du schmecken, in welcher Region Du bist“: In diesem Fall handelt es sich um Gebackene Mäuse.

Omas Küche im „Fine Dining“-Stil

Alles an der Architektur von „Spitzbart + Partners“, die nicht wenige Eingesessene insgeheim wohl als „die Halle“ bezeichnen, atmet Offenheit und Aufbruch. Die Gäste, so Nährers Wunsch, sollen damit „ebenfalls im Neuen ankommen“. Inhaltlich allerdings bedeutet das für ihn einen Blick zurück: „Im Dorfwirtshaus müssen wir den Geschmack der Mütter und Großmütter treffen“, kommentiert er etwa das Beuscherl vom Reh oder den geschmorten Hasenlauf auf seiner Karte. Gleichzeitig will er aber von seinem Gemüse „nicht nur die Knollen verkochen, sondern auch mal Blätter oder Nachtriebe anbieten“. Soziologen würden Nährers Wirtshaus-Investition als „dörflichen Möglichkeitsraum“ definieren. Wichtiger ist aber die Frage: Geht sich derlei in Zeiten allgemeiner Probleme für die Gastronomie wirtschaftlich aus?

„Je spezialisierter Du bist, desto schneller bist Du auch wieder weg“, ist dazu die Erfahrung des Kochs Mike Nährer. Die breiten Vorlieben des heutigen Publikums, inklusive Abkehr von Fleischgerichten und Unverträglichkeiten, zu treffen, sei dabei ein Schlüssel. Die große Aufmerksamkeit für verschwundenes Handwerk und Rezepte (Stichwort: Oma-Küche) kann ein weiterer Trumpf sein: „Ich mache keine Unterschiede in der Küche, sage nicht: „Jetzt kommt ein ‚Fine Dining‘-Gericht“, liefert Nährer auch ein Art Austro-Definition dessen, was international als „Bistronomy“ seit Jahren im Trend liegt. 

Kosten-Vorteil dank Wirtshaus

Allein ist Nährer mit seinem Ansatz jedenfalls auch national nicht. Ganz ähnlich hält es im Oberpinzgau etwa Franz Meilinger vom „Weyerhof“ mit seinem Bekenntnis zum Wirtshaus. Ein reines Gourmetmenü war für ihn im dezentralen Bramberg am Wildkogel nie eine Option. „Das eine muss das andere erhalten“, so der weitgereiste Topkoch. Er hat auch keine räumliche Trennung zwischen seinen beiden Küchenlinien (Wirtshaus und Gourmet) vollzogen wie viele Kollegen. Das „große Menü“ tragen allerdings die beiden Chefköche Franz Meilinger und Andreas Stotter persönlich auf und erläutern die Gänge. „Da schauen automatisch alle“, so der „Weyerhof“-Chef, der auch wirtschaftlich von dieser Mehr-Auswahl für den Gast überzeugt ist: „Nicht wenige Wirtshausgäste kommen später wieder, um auch das Menü zu genießen“!

Den – auf den ersten Blick paradoxen – Vorteil für die Kalkulation durch zwei Angebote für den Gast betont auch Andreas Krainer („Hotel Restaurant Krainer“) in Langenwang. In der Hochsteiermark hat sich die „gehobenere“ Linie auch erst sukzessive entwickelt, „am Anfang stand eigentlich ein Café mit einer kleinen warmen Karte“. Wird aber heute ein ganzes Tier für die Krainer-Küche angekauft, „gehen Edelteile in den „Fine Dining“-Bereich, Innereien wieder passen perfekt ins Wirtshaus“. Praktiker Krainer serviert dann z. B. die Rindsleber im Mittagsmenü, so lange der Vorrat reicht. Die mit den Knochen und Parüren gekochten Jus und Suppen wiederum geben allen Gerichten im Haus gleichermaßen Geschmack.

„Kannibalisiert“ die neue Linie?

Wer auch nur ein Semester Marketing studiert hat, wird nun sofort eine Frage stellen: Verschieben sich durch das preislich so unterschiedliche Angebot nicht die Gäste von der Hochküche zum Wirtshaus-Teller? „Kannibalisierung“ nennt man dieses Phänomen, wenn das freiwillige „Downgrading“ die Margen auffrisst. Davon sei keine Rede bei ihm, sieht Andreas Krainer weniger eine „Haubenküche light“, als eine Aufwertung des Handwerks in den verbliebenen echten Wirtshäusern: „Selbst ein gutes (!) Wiener Schnitzel gibt es mittlerweile nicht mehr an jeder Ecke. Dafür darf es heute aber auch etwas kosten, solange der Gast es nur in guter Qualität bekommt“. 

Andreas Döllerer, seit kurzem einer von nur acht österreichischen Betrieben mit fünf Hauben bei „Gault Millau“, stimmt dem zu. Er sieht in seinem Wirtshaus ebenfalls „oft die gleichen Gäste“ wie im Gourmetrestaurant. „Tendenziell wird im Wirtshaus sogar mehr Wein flaschenweise getrunken“, hat er in Golling sogar eine überraschende Umsatz-Analyse parat. Döllerers Begründung dafür? Erstens nähme der Gast gerne die vorgeschlagene Weinbegleitung zum Acht-Gänge Menü im Restaurant. Zweitens sei „eine einzige Flasche, die zu allem passt, auch schwierig zu finden“. Die Gerichte im Wirtshaus hingegen seien wie gemacht für ein (geteiltes) Flascherl dazu – „Gäste gönnen sich da auch gerne was um 100 oder 200 Euro“. Während im Gourmetbereich gerne einmal ein Gang ausgelassen werde, gebe es im Wirtshaus noch Gerichte, wegen denen man extra dorthin komme: „Alle Fans wissen, dass es bei uns noch Bries oder eine Niere im Ganzen und im Fett gebraten gibt“. 

Die Botschaft des Salzburger Spitzenkochs, der nicht von ungefähr ein Kochbuch namens „Das Wirtshaus“ verfasst hat, lässt sich optimistisch zusammenfassen: Der runderneuerte Dorfwirt hat Zukunft. Als Nahrungsquelle vielleicht an weniger Öffnungstagen. Als Kulturgut aber immer!