Sinus-Milieus

Fakten statt Orakel

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11.04.2023

Marktsegmentierung im Tourismus nach Trends. Wie uns Sinus-Milieus helfen, Wünsche von Gästen zu verstehen
Sinus

Die Gesellschaft befindet sich ständig im Wandel. Speziell die letzten Jahre haben aufgrund massiver Verwerfungen in der Arbeitswelt, vor allem pandemiebedingt, auch das Freizeitverhalten der Menschen spürbar verändert. Klassische Modelle der Gäste-Einteilung funktionieren daher nicht mehr wie früher, was die Planbarkeit für Gastronomen und Hoteliers zur Herausforderung macht.

Mithilfe der vom Sinus-Institut entwickelten Sinus-Milieus, einem detaillierten Modell der Zielgruppen-Typologie, können Menschen mit ähnlicher Lebensweise unterschiedlichen Gruppen (Milieus) zugeordnet werden, die wiederum durch soziale Stellung einerseits und Lebensorientierungen andererseits definiert werden. Als Mittel der Zielgruppenforschung schon Ende der 70er-Jahre entwickelt, gibt es mittlerweile Modelle für mehr als 50 Länder; spezifische Sinus-Mi­lieus für Österreich werden bereits seit 2001 ermittelt. Die zuletzt im Oktober 2022 komplett aktualisierten Daten ergeben interessante neue Perspektiven, die sich Gastronomie- und Hotelbetreiber in diesen herausfordernden Zeiten zunutze machen können.

Schwindende Mitte

Die gesellschaftliche Mitte, wie wir sie kennen, verliert zusehends an Gewicht und Bedeutung. Aktuell gibt es in der mittleren Mittelschicht zwei Milieus, das Adaptiv-Pragmatische und das Nostalgisch-Bürgerliche. Martin Mayr, Mitglied der Geschäftsführung der in Österreich für Sinus-Studien verantwortlichen Integral Markt- und Meinungsforschungsgesellschaft, fasst den Trend zusammen: „Die alte, staatstragende Mitte, deren zentrale Leitmotive ‚Stabilität‘ und ‚Normalität‘ waren, existiert in dieser Form nicht mehr. Abgelöst wird sie durch ein nostalgisch-bürgerliches Milieu, das die vermeintliche ‚Ordnung der Vergangenheit‘ wiederherstellen möchte und zum Sprachrohr des überforderten und unzufriedenen Teils unserer Gesellschaft wird. Es bildet sich Reaktanz gegen die Eliten heraus und zahlreiche Fakten werden angezweifelt. Weiters ist ein neues Milieu entstanden, das sich radikal für die nachhaltige Zukunft Österreichs einsetzt.“ 

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Die Folge: Während sich noch vor mehr als zehn Jahren aus Lebenshaltungen (Tradition, Modernisierung, Neuorientierung) typischerweise Milieus ermitteln ließen, gibt es heute auch eine zehnte Teilmenge: die „Progressiven Realisten“. Bereits sieben Prozent der Gesamtheit sind diesem Milieu zuzurechnen, der Trend weist nach oben. „Sie haben ein starkes Bedürfnis nach Mitsprache und Mitgestaltung bei Staat und Gesellschaft und eine hohe Bereitschaft, sich aktiv einzubringen. Sie streben nach konsequenter Umsetzung von nachhaltigen Alternativen im Alltag und einem umwelt- und klimasensiblen Lebensstil – ganz ohne Verzichtsideologie und Untergangsrhetorik“, analysiert Bertram Barth, Integral-Geschäftsführer. Auf gut Deutsch: Globale, große Themen wie Nachhaltigkeit, Klimawandel und Diversität gehen Hand in Hand mit zutiefst persönlichen Bedürfnissen wie Party, Selbstverwirklichung und starkem Veränderungswillen.

Sinus-Milieus: Erkenntnisse für die Branche

Marco Riederer, Co-Geschäftsführer der Prodinger Tourismusberatung, setzt regelmäßig Projekte mit INTEGRAL um. Basierend auf der Expertise mit Sinus Milieus, hat er  die Sinus-Profis Dr. Bertram Barth und ­Alexandra Mossakowsk in seinem Podcast befragt. Die wichtigsten Erkenntnisse auf einen Blick:

• Nachhaltigkeit ist ein Thema von allgemeiner Relevanz geworden. Es gibt kein Milieu, das sich entziehen kann, jedoch gehen sie unterschiedlich damit um.
• Das Thema Nachhaltigkeit, das früher im postmateriellen Milieu zentriert war, ist deutlich breiter geworden. Nachhaltigkeit wird mittlerweile stark als Klima- und Umweltschutz verstanden und ist in der breiten Gesellschaft angekommen.
• Die Wende hin zu gesellschaftlicher Mitbestimmung geht Hand in Hand mit der zunehmenden Konjunktur des Themas Nachhaltigkeit.
• Speziell bei den progressiven Realisten spielt das Gemeinwohl eine große Rolle. Sie haben das breiteste Konzept für eine soziale und wirtschaftliche Nachhaltigkeit. Sie legen außerdem sehr viel Wert auf Diversität.
• Den Adaptiv-Pragmatischen ist die Nachhaltigkeit natürlich wichtig, aber sie muss vor allem praktisch sein.

Die gesamten Podcasts gibt es auf www.smarthotelkey.at 

Einmal im Monat ist die ÖGZ zu Gast – dann wird von Chefredakteur Alexander Grübling „Nachgefragt“: www.smarthotelkey.at/nachgefragt/

Andererseits ist auch eine deutliche Verlagerung von Anteilen der Mitte in Richtung nostalgisch-bürgerliches Milieu auszumachen. Dieses ist, ähnlich wie auch die Konservativ-Etablierten der Oberschicht und die Traditionellen der teilweise prekären Gesellschaftsschichten, um Sicherheit und Ordnung besorgt. Jedoch fließt hier zusätzlich noch ein starkes Bedürfnis nach festen Strukturen, gepaart mit Statusdenken bei gleichzeitiger Kritik an den herrschenden Verhältnissen, Misstrauen und Sehnsucht nach der guten, alten Zeit ein. Die Folge dieser beiden in gegensätzliche Richtungen von der Mitte wegdriftenden Milieu-Anteile: ein spürbarer Umbruch und starke Polaritäten in Österreichs Gesellschaft. Einzig einender Faktor über praktisch alle Milieus hinweg ist ein Sorgen-Barometer mit sehr hohen Werten betreffend Teuerung, Ukraine-Krieg und – ironischerweise – Bedenken hinsichtlich einer gesellschaftlichen Spaltung. Erstaunlicherweise spielt dabei die in puncto Spaltung so prägende Corona-Furcht heute nur noch eine untergeordnete Rolle.

Daher ist es umso wichtiger, dass der Gast während seiner Beherbergung genau diese Faktoren nicht zu spüren bekommt, sondern im Gegenteil genau diese Schlüsselfaktoren als positiv aufgeladen erlebt. Also zum Beispiel deutlich gekennzeichnete faire Preise ohne versteckte Zusatzkosten, erkennbar sorgsamer Umgang mit Ressourcen, perfekte Hygiene ohne Masken und ein allgemeines Gefühl der Geborgenheit und Wertschätzung. Eigentlich alles immer schon Selbstverständlichkeiten, aber eben mit der Anforderung, diese auch aktiv sicht- und erlebbar zu machen. 

Fazit

Was kann nun die Branche außerdem aus diesen Erkenntnissen lernen, um Gäste anzuziehen und bestmöglich zu bedienen? Nun, sofern man nicht nur den Diskont-Gast sucht, ist Nachhaltigkeit sicher der kleinste gemeinsame Nenner. Es ist ein Thema von allgemeiner Relevanz, das so gut wie alle Milieus anspricht. Der Bogen spannt sich hier von gelebtem Klima- und Umweltschutz bis hin zu Regionalität, Gemeinwohl und Diversität. Konkret also Dinge wie: kurze, umweltschonende Wege, sowohl bei Lieferanten als auch der berühmten letzten Meile (siehe ÖGZ 01/2023). Grüne Energie. Regionale Lebensmittel. Gelebte Inklusion im Personalwesen.  

"Es sind heute die Lebensanschauungen, die Menschen verbinden, wir sprechen auch von Wertegemeinschaften. Diese wirken heute wesentlich stärker als demografische Daten wie Alter, Schulbildung, Wohnort oder soziale Schichten."

Sinus-Institut

Dabei macht es fast keinen Unterschied, ob der Gast zur Boomer-Generation oder zu GenX, GenY bzw. GenZ zählt, sondern es geht um Denkweisen und Weltbilder. Es sind heute die Lebensanschauungen, die Menschen verbinden, wir sprechen auch von Wertegemeinschaften. Diese wirken heute wesentlich stärker als demografische Daten wie Alter, Schulbildung, Wohnort oder soziale Schichten. Und genau diese Verbindungen werden in den Sinus-Milieus berücksichtigt und dargestellt. Es lohnt sich also quer über alle Bereiche der Gastronomie und Hotellerie hinweg, sich diese Milieu-Unterteilung anzusehen und ein Gespür dafür zu bekommen, wie der Gast zuzuordnen ist. Je mehr man zusätzlich zu den vorher genannten allgemeinen Prio­ritäten auch auf die individuellen Bedürfnisse eingeht, umso besser. Um auf ein Beispiel mit der letzten Meile zurückzukommen: Wenn der Gast mit dem Zug statt mit dem PKW anreist, lohnt es sich durchaus, seine Gründe dafür zu eruieren. Hat er ohnehin ein Klimaticket? Wählt er die Schiene aus Komfort- oder Umweltschutzgründen? Oder verzichtet er aus Kostengründen auf die Anfahrt mit dem Auto? Wenn die Motive dafür bekannt sind, lassen sich viele andere Dinge rund um die Beherbergung dementsprechend passend gestalten – der Unterschied im Erleben ist für den Gast dann um ein Vielfaches intensiver. Und der glückliche Gast kommt gerne wieder …