Alpentourismus: Heidi oder Halligalli?

Tourismus
13.09.2023

 
Ein persönlicher Streifzug durch das Dilemma zwischen Massentourismus und alpiner Idylle von Gastautor Axel Gundolf.
Alpen Wanderer

Vom kleinen Bergsteigerdorf Ginzling im Zillertal gelangt man mit dem Auto in weniger als einer halben Stunde über eine malerische Mautstraße zum Schlegeisspeicher auf etwa 1800 Metern Höhe. Vor einiger Zeit bin ich von dort aus zum Friesenberghaus aufgestiegen, habe dort mit ein paar wenigen
anderen Frühaufstehern eine heiße Kaspressknödelsuppe gegessen und bin dann weiter auf dem Berliner Höhenweg zur Olpererhütte gewandert. Bis zu diesem Punkt war das eine der schönsten Wanderungen meines Lebens, mit atemberaubenden Ausblicken, einer himmlischen Ruhe und herrlicher Bergluft. Aber all das hatte ein Ende kurz vor meiner Ankunft an der Berghütte.

Wenn man bei Instagram nach dem Hashtag #olpererhütte sucht, bekommt man fast 30.000 Bilder zu sehen - und sie sehen alle exakt gleich aus: Ein Mensch steht auf einer Hängebrücke, die aussieht, als hinge sie direkt über dem 600 Höhenmeter weiter unten gelegenen, türkis schimmernden Stausee, im Hintergrund schneebedeckte Dreitausender. Ein spektakuläres Motiv, tausende Male repliziert und in schöner Gleichförmigkeit der Social-Media-Followerschaft dargeboten.

In der Realität bedeutet das aber, dass Dutzende Menschen an dieser kleinen, in Wahrheit nur zwei Meter über einem Bach verlaufenden Brücke Schlange stehen und darauf warten, dass sie endlich auch dran sind. Wenn sie dann für ein paar Sekunden auf der kleinen Hängebrücke stehen dürfen, macht einer der vielen Menschen, die sich wiederum im Bachbett drängeln, genau dieses eine Foto von ihnen.

Während ich beim Aufstieg zum Friesenberghaus nur einer Handvoll Leute begegnet war, kamen mir beim Abstieg von der völlig überfüllten Olpererhütte Hunderte Menschen entgegen. Nur wenige von ihnen waren für diese Wanderung angemessen ausgerüstet, sie rutschten aus in ihren Stoffschuhen, schwitzten in ihre Seidenhemden und Samtjäckchen, viele hatten Selfie-Sticks statt Wanderstöcken in der Hand.

Die zwei Seiten des Massentourismus

Ich habe mich damals dabei ertappt, wie mich dieses Schauspiel wütend gemacht hat. Was fällt den Leuten ein, hier wie eine Horde Influencer den Berg hoch zu watscheln und diese wunderbare Ruhe kaputt zu machen? Und gleichzeitig dachte ich: Aber ist es nicht auch wunderbar, dass so viele Leute diesen Aufstieg auf sich nehmen, getrieben zwar von dem Wunsch nach Likes, am Ende aber belohnt mit einem wunderschönen alpinen Erlebnis, das sie sonst niemals gehabt hätten?

2019, vor dem Corona-Einbruch, erreichten die touristischen Übernachtungen im Alpenraum mit 225 Millionen pro Jahr einen Höchststand. Es würde mich überraschen, wenn dieses Niveau in den nächsten Jahren nicht nur wieder aufgeholt, sondern noch weiter gesteigert wird. Der Trend zum Bergurlaub hält an. Die Menschen sehnen sich in unserer zunehmend komplexen und krisengebeutelten Zeit nach der heilen Welt der Heidi-Geschichten, nach intakter Natur - und ja, auch nach instagram-tauglichen Locations.

Meine Großeltern hatten eine kleine Pension im Pitztal in Tirol. Meine Kindheit in den 80er Jahren war geprägt von langen Sommerwochen in den Alpen. Was es in meiner Kindheit nicht gab: Erlebniswelten auf 3000 Meter Höhe mit Gondel-Zugang, architektonisch fragwürdige Aussichtsplattformen aus Glas und Beton, Wasserparks mit Dutzenden Rutschen oder Junggesellenabschiede in den Bars der Talorte. Wo heute Streichelzoos, Spielburgen und Sommerrodelbahnen die Kids unterhalten, stand damals für uns noch nicht einmal eine Schaukel. Und Instagram, Facebook oder TikTok waren ein ferner Alptraum.

Heute bedeutet Alpentourismus auch Massentourismus. Und das ist ja auch gut so. Warum sollte diese unfassbar schöne Natur nur einem elitären Kreis von Alpinisten vorbehalten sein? Ich teile da die Haltung des Deutschen Alpenvereins, wenn er sagt: Unser Ziel ist es, dass die Alpen möglichst für alle zugänglich bleiben.

Das Problem dabei ist: Ein pures Bergerlebnis ist damit zwar sehr demokratisch geworden, aber es ist neben Übernachtung und Gastronomie auch weitgehend kostenlos. Geld kann man mit Wandernden nicht so viel verdienen wie mit Urlaubern, die über ein breites Entertainment-Interesse verfügen.

Alpendorf
Die Alpen im Zeitalter von Instagram: Ist der Aufstieg zur Berghütte nur noch eine Kulisse für das perfekte Foto?

Modell “Sölden” gegen Modell “Vent”

Und so ist es dann nur folgerichtig, dass man beispielsweise an einem Ort wie Sölden im Ötztal nicht nur Skifahren und wandern kann, sondern auch den Outdoor-Freizeitpark “Area 47”, die James Bond Erlebniswelt “007 Elements” oder das Erlebnishallenbad “Freizeit Arena” vor der Haustür hat - ebenso wie Modegeschäfte, Bars, Discos und gleich mehrere Stripclubs.

Nur 20 Autominuten entfernt von Sölden liegt auf 1895 Metern Höhe mit dem kleinen Örtchen Vent der erste Ort, der das Label “Bergsteigerdorf” erhalten hat. Vent ist ein echter “Happy Place” für meine Familie. Trotz der geografischen Nähe könnte Vent nicht weiter von Sölden entfernt wirken, wenn es auf dem Mars läge. Die “Bergsteigerdörfer” sind eine Initiative des Österreichischen Alpenvereins, mit der touristische Orte für ihre Ursprünglichkeit, Tradition und Kultur ausgezeichnet werden. Ins Leben gerufen wurde diese Idee bereits 2008, und ich bin vielleicht ihr größter Fan.

In den letzten Jahren habe ich sieben Urlaube in Bergsteigerdörfern verbracht, und jedes Mal war es großartig. Zum Glück bleiben mir noch über 30 Bergsteigerdörfer, in denen ich noch nicht war. Aus Sicht der Tourismus-Branche muss man aber fragen: Reichen Leute wie ich als Zielgruppe aus?

Nachhaltigkeit als potenzielle Wachstumsbremse

Vor ein paar Jahren berichtete die Süddeutsche Zeitung über das Bergsteigerdörfer-Label unter der Überschrift “Klein, fein - aber weiterhin arm?”. In dem Artikel wurden Kritiker zitiert, die in der Initiative lediglich ein “Sammelbecken der Abgehängten” sehen. Und tatsächlich ist ja die Frage, ob die strengen Auflagen einen touristischen Erfolg nicht eher hemmen als fördern. Die Ortschaft Kals am Großglockner verlor den Titel Bergsteigerdorf 2012 quasi freiwillig, weil man sich für den Bau einer Chalet-Anlage und der “Skischaukel Großglockner Resort” entschied. Ist das Modell “Vent” also vielleicht nur ein naiver Traum für eine Handvoll Nostalgiker und das Modell “Sölden” der einzig wahre Weg zum kommerziellen Erfolg?

Dass es so einfach auch nicht ist, zeigt das Beispiel des kleinen Örtchen Hallstatt im Salzkammergut. Seit die 800-Seelen-Gemeinde vor ein paar Jahren als Instagram-Hotspot entdeckt wurde, wird das idyllische Dorf von Touristen aus aller Welt buchstäblich überrannt. Bis zu 10.000 Menschen pro Tag pilgern an das Ufer des Hallstätter Sees, um dort ihre Selfies zu machen. Im Frühjahr wurde dort nun sogar zeitweise eine Holzwand hochgezogen, um die Aussicht unattraktiver zu machen. Nun wird über Tagestickets und Zugangsbeschränkungen diskutiert. Ganz so klar scheint der Weg zwischen intakter Tradition und knallhartem Kommerz also doch nicht zu sein. Aber wie kann eine Lösung dieses Dilemmas aussehen?

Drei klare Schritte zur Lösung

Als Organisationsberater arbeite ich viel mit den Prinzipien der Improvisation. Die helfen nämlich genau dabei, solche komplexen Fragen ganz pragmatisch und lösungsorientiert anzugehen. Als ich mir in diesem Sommer im Kärntner Urlaubsort Mallnitz (natürlich ebenfalls ein Bergsteigerdorf!) meine Gedanken zum Spannungsfeld von alpiner Tradition und wirtschaftlichem Erfolg gemacht habe, kamen mir drei dieser Prinzipien als hilfreiche Ansätze in den Sinn. 

Das erste davon lautet: “Mach das Naheliegende!” Da geht es darum, auf Basis der gerade aktuellen Realität eine klare Entscheidung zu treffen. In diesem Fall heißt das: Touristische Destinationen in den Alpen sollten nicht herumlavieren und versuchen, gleichzeitig alles für alle zu sein. Ein schönes und sehr passendes Negativ-Beispiel bietet da die Deutsche Fußball-Bundesliga. Die will nämlich an Traditionen fest- und Investoren raushalten und dabei trotzdem gleichzeitig auf dem höchsten Level der internationalen Kommerzialisierung mitspielen. So etwas geht aber meist nach hinten los, das Ergebnis ist ein “Worst of Both Worlds”. Die Fans sind genervt von künstlichen Clubs, ungünstigen Anstoßzeiten und zunehmender Langeweile. Und auf der anderen Seite reicht das Geld dann eben doch nicht, um beispielsweise mit der englischen Premier League mitzuhalten, die sich eben für die maximale Vermarktung entschieden hat. Eine klare Entscheidung und Positionierung machen mehr Sinn: Bergsteigerdorf oder Entertainment-Location? Beides kann funktionieren. Aber nicht gleichzeitig.

Das zweite Prinzip heißt: “Vertraue dem Prozess!” Wenn die Entscheidung einmal getroffen ist, muss man sie konsequent durchziehen, auch bei zeitweiligen Schwierigkeiten. Ansonsten verzettelt man sich, stiftet Unsicherheit bei den touristischen Anbietern und Verwirrung bei den Gästen. Opfere ich meinen Status als Bergsteigerdorf doch der einen Ausnahme und baue die große Hotelanlage mit Golfkurs? Trotz möglicher kurzfristiger finanzieller Vorteile würde ich davon abraten. Städte und Gemeinden sind soziale Systeme und tendieren als solche zur Erhaltung des Status Quo. Das heißt: Wenn die Positionierung einmal in den Köpfen der Menschen etabliert ist, lässt sie sich kaum noch ändern. Ein Extrembeispiel dafür ist die Ferieninsel Mallorca, die ihr Ballermann-Image partout nicht abschütteln kann. Auch Orte wie Sölden oder Ischgl hätten Schwierigkeiten, sich auf einmal als Horte des sanften Tourismus zu etablieren - und wollen das völlig zurecht auch gar nicht.

Das dritte und letzte Prinzip ist gleichzeitig das schönste. Es lautet: “Lass die anderen gut aussehen!”
Darin steckt der Gedanke, dass man Großes nur gemeinsam erreichen kann. Das heißt, die touristische Positionierung und ihre konsequente Umsetzung, also die ersten beiden Prinzipien, müssen kollektiv erfolgen. Alle relevanten Stakeholder im Ort müssen eingebunden sein, damit sie auch wirklich langfristig an einem Strang ziehen. Und der Kollektiv-Gedanke geht sogar noch weiter, nämlich über die Ortsgrenzen hinaus. Warum nicht vernetzter denken und eine Cross-Promotion unter den Bergsteigerdörfern etablieren? Jeder Streaming-Dienst arbeitet mit solchen Empfehlungs-Algorithmen: “Wenn Sie X mochten, wird Ihnen bestimmt auch Y gefallen.” Wenn ich als Bergsteigerdorf nicht nur darüber nachdenke, wie ich meine Gäste zum Wiederkommen in meinen Ort bewegen kann, sondern Ihnen auch andere Bergsteigerdörfer für den nächsten Urlaub empfehle, gewinnen am Ende alle. Die Bergsteigerdörfer, ihre kleine, aber feine touristische Zielgruppe - und der Alpinismus.

Über den Autor

Axel Gundolf ist Organisationsberater, Trainer und begeisterter Wanderer. Er lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in München. Mehr Informationen und weitere Inhalte findet man auf www.elementarinstitut.de