Vorarlberg

Der Gast als Bürger auf Zeit

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22.09.2022

 
Die von Land und Sparte Tourismus initiierte Tourismusstrategie 2030 ist unlängst einstimmig durch den Landtag gegangen. Doch was steckt konkret in ihr? Ein Gespräch mit Tourismus-Landesrat Christian Gantner und Vorarlberg-Tourismus-­Geschäftsführer Christian Schützinger
Landesrat Christian Gantner (l.) und VT-Geschäftsführer Christian Schützinger.
Landesrat Christian Gantner (l.) und VT-Geschäftsführer Christian Schützinger trafen sich an der Bregenzer Seebühne zum Interview mit der ÖGZ. Nur einige Wochen davor wurde die neue Tourismusstrategie vom Landtag beschlossen. Wir wollten nun wissen, was genau drinsteckt.  

ÖGZ: Der Landtag hat die Tourismusstrategie 2030 einstimmig beschlossen, auch die Erarbeitung war ein deliberativer Prozess mit vielen Beteiligten. Es fällt auf, dass es eine Weiterführung der Strategie 2020 ist. Wo geht es konkret hin? 
Christian Gantner: Wir haben bewusst einen breiten Prozess gestartet und dabei nicht nur Gastronomie und Hotellerie, sondern auch beispielsweise Skischulen oder den Sporthandel mit eingebunden. Es war mir wichtig, dass sprichwörtlich die ganze Tourismusfamilie „mit am Tisch“ war. Die Pandemie hat eine große Veränderung im Tourismus vorangetrieben. Dabei hat sich gezeigt, dass die Kernwerte der Tourismusstrategie 2020 – die Regionalität, die Nachhaltigkeit, die Gastfreundschaft und letztlich auch die Vernetzung – die absolut richtigen Leitlinien waren. Urlaube in Bettenburgen will niemand mehr, die Gäste wollen mit Menschen in Interaktion treten. Die Werte der Strategie 2020 waren somit die richtigen. Wir verfolgen diese jetzt konsequent weiter. So kamen wir etwa auf die weltoffene Regionalität.

Die Strategie 2030 steht im Sinne der nachhaltigen Entwicklung. Es geht um das Erreichen von weichen Zielen, etwa die Tourismusgesinnung, im Gegensatz zum reinen Umsatzscheffeln. Klassische Benchmarks wie Nächtigungszahlen gibt es nicht mehr. Woran wollen Sie denn gemessen werden?
Gantner: Wir möchten den Erfolg unseres Arbeitens nicht über banale Zahlen wie Betten oder Nächtigungen messen.
Christian Schützinger: Schon bislang waren die Nächtigungszahlen nicht als zentrale Orientierungsgröße formuliert. Die Kernwerte sind wichtig und die Qualität. Nichtsdestotrotz ist es wichtig, die wirtschaftliche Bedeutung des Tourismus deutlich zu machen. Unsere Wertschöpfungsstudie soll alle drei bis fünf Jahre die wirtschaftliche Dimension des Tourismus erklären. Was jetzt neu ist: Projekte sind mit Kenngrößen versehen, damit wir sehen, ob der Weg erfolgreich beschritten wird.

Das sind …
Schützinger: Wir orientieren uns da an den SDGs der Vereinten Nationen für eine nachhaltige Entwicklung. Aus dem heraus ist ein komplexes, aber unserer Meinung auch vernünftiges Orientierungssystem entstanden.
Gantner: Die Strategie wurde von Land, Wirtschaftskammer und Vorarlberg Tourismus entwickelt. Wir sind jetzt so weit, dass Leuchtturmprojekte bei Kulinarik oder Mobilität fest verankert werden.

Stichwort: Mobilität. Das Problem der letzten Meile bleibt. Wie soll die Mobilität verändert werden?
Gantner: Wir haben in Destinationen wie der „Alpenregion Bludenz“ schon sehr gute Best-Practice-Beispiele, in denen wir Gästen entsprechende Mobilität anbieten können. Der Gast kennt die Destinationsgrenze ja nicht, er will den ganzen Erlebnisraum erfahren. Er soll vom Gletschereis bis zum Bodensee ein sehr breites Angebot haben. Hier braucht es Mobilität, um dieses Angebot in der Breite zu erleben.
Schützinger: Beim Gast müssen wir das Vertrauen entwickeln, dass er mit dem öffentlichen Nahverkehr so gut zurechtkommt, dass er gleich öffentlich anreist. Hier haben wir in den vergangenen Jahren im Bereich internationale Anbindungen einiges erreicht. Es wird im Zwei-Stunden-Takt von Zürich oder München gefahren oder auch regelmäßige Verbindungen aus Frankfurt geben.

Und wie bekommt eine vierköpfige Familie komfortabel das Gepäck ins Hotel?
Schützinger: Für die letzten Kilometer kann man das mit Partnern wie den ÖBB schaffen. Da arbeiten wir gemeinsam mit Verkehrsverbünden, aber auch mit den Destinationen daran, dass diese Mobilitätsmöglichkeiten angeboten werden. Da braucht es eine enge Abstimmung der Leistungspartner.

Kann man da im Marketing was machen, um eine ganzheitliche Geschichte zu erzählen? Stichwort: Slow Travel.
Schützinger: Wir sprechen ja schon eine Zielgruppe an, die gerne zu Fuß geht und eher langsam reist. Wir brauchen da noch vielfältige Kommunikation. Über die Gastgeber muss das Bewusstsein kommen, das muss aktiv kommuniziert werden. Und wir müssen ein Narrativ entwickeln, dass man Vorarlberg über öffentliche Verkehrsmittel bereisen kann.

Landesrat Christian Gantner (l.) und VT-Geschäftsführer Christian Schützinger

Viele Unternehmer haben Angst, dass das Verfolgen von Nachhaltigkeit schlecht für das Geschäft sei. Was sagen Sie denen? 
Schützinger: Wir haben interessanterweise diese Stimmen nicht gehört. Das Einfordern der nachhaltigen Entwicklung kommt aus dem Strategieprozess und aus den Unternehmen. Die Entwicklung, die wir nehmen, muss langfristig vertretbar sein. Es mag immer wieder Stimmen geben, die sagen, mir ist es egal, Hauptsache, mein Geschäft rennt. Aber wer so denkt, kann seine Kindern oder der nächsten Generation nicht in die Augen schauen.
Gantner: Ich bin sehr froh, dass aus dem Prozess zum Ausdruck kam, dass der Tourismus eine große Bedeutung für das Land hat. Der Tourismus leistet einen Beitrag zum guten Leben. Da geht es um mehr als Schnitzelkochen und Bettenverkaufen. Wir haben in keiner unserer Talschaften das Problem mit Abwanderung. Tourismus schafft Arbeitsplätze, Wertschöpfung, aber auch Attraktivität, weil jede touristische Infrastruktur auch für die Einheimischen den Lebensstandard hebt. Somit ist der Tourismus auch Energiequelle für nachhaltige und regionale Lebensraumentwicklung.

Destinationen werden zu Lebensraum-Managern. Das geht über klassischen Tourismus hinaus. 
Gantner: Wir wollen, dass Tourismus aus der DNA der Regionen entsteht. Wir sagen, der Gast ist nicht bloß Besuchender, er soll Bürger und Bürgerin auf Zeit sein. Gleichzeitig ist für uns auch jede oder jeder Einheimische/r Gast. Das ist ein völlig neuer Ansatz. Wenn wir dieses „Zweiklassendenken“ Gast und Einheimischer überwinden, schaffen wir eine ganz neue Qualität des Gastgebens.

Mit der Freizeitwirtschaft sorgt der Tourismus für 11.000 Arbeitsplätze direkt – und etwa 30.000 indirekt. Dennoch fehlen, wie in anderen Branchen, auch im Tourismus Leute. Wie kann man der Branche helfen? 
Schützinger: Der Ansatz der Lebensräume hilft da. Freizeitmöglichkeiten, aber auch Community-Building sind hier zen­trale Punkte. Das Montafon oder Kleinwalsertal sind hier schon sehr weit. Es gibt Profis, die sich mit dem Thema Mitarbeiterakquise beschäftigen, das müssen wir nützen. Verschiedene Initiativen sollen miteinander verzahnt werden. Arbeitsmodelle werden dabei eine ganz entscheidende Rolle spielen.
Gantner: Wir haben es geschafft, die aus der Ukraine Geflüchteten durch spezielle Ausbildungskurse in den Arbeitsmarkt zu holen. Mir fällt auf: Die Betriebe, die sich etwas für Mitarbeiter*innen einfallen haben lassen, haben auch derzeit kein Problem. Es geht auch um die Tourismusgesinnung in der Gesellschaft. Wenn die gut ist, dann gibt es auch lernwillige Jugendliche in der Branche. Was gibt es Schöneres, als mit Menschen zu arbeiten. Tourismus ist grundsätzlich ein sicherer Arbeitsplatz. Unsere Berge und unsere Gastfreundschaft können nicht in „Billigländer“ ausgelagert werden.