„Amateur“ mit zwei Sternen

Gastronomie
03.11.2022

 
Er ist einer der wenigen Zwei-Sterne-Köche der Welt, der davor nie in einer Profiküche gearbeitet hat. Trotzdem hat sich Jordi Artal mit seinem „Cinc Sentits“ in Barcelona so etwas wie ein Kindheitstraum verwirklicht.
Jordi Artal

Hand aufs Herz: Würden Sie sich an einen Fotografen wenden, wenn Ihr Essen anzubrennen droht? Wohl kaum. Außer er heißt Jordi Artal. Vom Geschäftsführer einer Fotoplattform ist er über Nacht in die Küche übersiedelt – und das mit durchschlagendem Erfolg, wovon nicht zuletzt seine Michelin-Sterne Zeugnis ablegen.
Nach zehn Jahren im Silicon Valley war er ausgebrannt und suchte die Veränderung: Sein Weg führte ihn 2004 – gemeinsam mit seiner Schwester – nicht nur zurück ins Mutterland Spanien, sondern kopfüber in ein neues berufliches Abenteuer. Wobei er schon als Kind immer wieder fasziniert in Omas Küche verweilte und später dann immer häufiger die Arbeitskollegen in Kalifornien mit seinen selbstkreierten Menüs begeisterte.

Fünf Sinne

Die Tatsache, dass er Kochen nie „professionell“ gelernt hat, hat Artal gar nicht unbedingt als Nachteil erachtet: „Das gab mir die Möglichkeit, unbeeinflusst von allen anderen meinen eigenen Weg zu finden und alles anders zu machen. Deswegen habe ich mein Lokal auch ‚Fünf Sinne‘ (Cinc Sentits) genannt. Jeder Gang soll ein Moment der Köstlichkeit sein, den man genießen kann, und dann folgt schon der nächste.“

Jordi Artal serviert nur zwei Degustationsmenüs mit acht bzw. zehn Geschmacksrichtungen, die mittags und abends gleich bleiben. Wert legt er dabei ganz bewusst auf Regionalität und Saisonalität, aber auch auf Nachhaltigkeit der Produkte, die überwiegend von kleinen Produzenten aus der Region stammen. „In der Küche sollte es vor allem um Spannung gehen. Ein noch so tolles Risotto schmeckt ab dem fünften Bissen immer gleich, deswegen gibt es da bei mir schon wieder das nächste Geschmacks­erlebnis.“ Es gibt in Wirklichkeit keinen richtigen Hauptgang, die Grundprodukte wiederholen sich nicht, dafür kann schon einmal der 16 Stunden lang geschmorter Ochsenschwanz von einer bei 43 Grad erwärmten Forelle gefolgt werden.
Wobei bei allem Experiment – was sich zum Teil in einer sehr ungewöhnlichen Weinfolge niederschlägt – darf auf eines nicht vergessen werden: den Geschmack. Artal im Brustton der Überzeugung: „Neue Gerichte müssen sehr viele Filter durchlaufen, bevor sie auf die Karte kommen. Und das Allerwichtigste dabei ist, sie müssen einfach gut schmecken.“ So ganz kann auch Artal den spanischen „Küchen-Übervater“ Ferran Adrià nicht leugnen, findet sich doch in seinem Menü aktuell sowohl ein Lauch-Kartoffel-Espuma als auch Popcorn im flüssigen Stickstoff wieder.

Ein echtes Zeichen wollte Artal auch mit der – gelinde gesagt – cool-reduzierten Einrichtung seines – seit drei Jahren an neuem Standort befindlichen – Restaurants setzen. Die zwölf Tische sind um einen Glas-Resopal-Quader in der Mitte des Restaurants gruppiert. „Ich will, dass meine Gäste durch nichts vom Essen abgelenkt werden. Die volle Konzentration des Gastes soll meinen Gerichten gelten und nicht der Einrichtung.“

Fleisch kommt auf den Teller

Neue Speisentrends wie Bio oder Vegan beobachtet er mit Interesse, auch wenn er persönlich die Zeit für vollkommen vegane Menüs in der Spitzengastronomie noch nicht gekommen sieht. Dabei kann er sich noch sehr gut an ein einzigartiges Gemüsegericht in einem Drei-Sterne-Restaurant in Monaco erinnern, das ihm nicht nur wegen seiner schnörkellosen Schlichtheit, sondern auch wegen seines Preises unvergesslich geblieben ist: „Für ein fleischloses Gericht würde ich mich keine 100 Euro verlangen trauen.“

Millionäre als Kunden

Nicht zuletzt deswegen, weil er nicht nur reiche Menschen kulinarisch glücklich machen will. „Aus ökonomischer Sicht wäre es für mich möglicherweise sinnvoller, wenn ich nur Millionäre als Kunden hätte. Aber mir ist der Student, der vielleicht wochenlang auf ein Essen bei mir gespart hat, als Gast genauso wichtig, wenn ich ihm damit die Tür in eine neue kulinarische Welt öffnen kann.“ Wobei ganz verschließen kann er sich dem steigenden finanziellen Druck durch immer teurer werdende Lebensmittelpreise natürlich nicht. Aber auch hier sieht er die Krise eher als Chance. „Für uns Köche stellt sich mehr denn je die Herausforderung, auch aus einfacheren Grundprodukten kreative Gerichte zu zaubern. Deswegen gibt es bei mir zum Lauch-Kartoffel-Espuma jetzt Forellenkaviar.“ Um lachend hinzuzufügen: „Bis jetzt hat noch kein einziger Gast nach echtem Kaviar gefragt.“

Text: Christian Bayr